An einem Freitag ereignete sich ein tragischer Wildunfall: Ein Reh war angefahren und so schwer verletzt worden, dass es durch den zuständigen Jäger erlöst werden musste. Nur zwei Tage später, am Sonntag, erreichte uns ein Notruf aus derselben Gegend – wegen eines kleinen, zitternden Wesens, das verzweifelt nach seiner Mutter schrie: ein neugeborenes Rehkitz, vollkommen allein, völlig hilflos. Doch seine Mutter würde nie wieder zurückkehren. Sie war das Reh, das am Freitag überfahren worden war. Mit gerade einmal 1100 Gramm Gewicht – vermutlich kaum älter als zwei Tage – stand das kleine Kitz am Beginn eines fast unüberwindbaren Weges. Denn unter 1500 Gramm ist die Aufzucht eines Rehkitzes nahezu unmöglich.
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nur 1100 g |
Aber wir wollten ihm eine Chance geben. In solchen Momenten bleibt keine Zeit, um zu organisieren oder lange zu überlegen. Deshalb haben wir beim Tierschutzverein immer ein Notfallpaket griffbereit: Spezialnahrung, Sauger, Wärmelampen – alles, was man für diese seltenen, aber umso dringlicheren Fälle braucht. Die Aufzucht eines so jungen Rehkitzes verlangt nicht nur Hingabe, sondern auch Präzision und viel Erfahrung:
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In den ersten Lebenstagen ist Biestmilch lebenswichtig – ihre Antikörper sind essenziell für das Immunsystem.
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Die Milch muss auf exakt 39,5 °C erwärmt werden – schon geringe Abweichungen können zu lebensbedrohlichem Durchfall führen.
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Alle 1,5 Stunden – auch nachts – muss gefüttert werden.
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Zwei identische Sauger sind notwendig, da sich Rehkitze stark an den ihnen vertrauten Sauger gewöhnen und nur schwer umlernen.
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Erst später folgen Aufzuchtmilch, dann Maulwurfserde und erste Wildkräuter – Rehkitze sind sehr wählerische Fresser, die nur langsam an feste Nahrung herangeführt werden dürfen.
hilflos ohne Mutter Gleichzeitig braucht es ein fuchssicheres, naturnahes Gehege mit viel Platz und so wenig menschlicher Nähe wie möglich. Denn das Ziel ist klar: die spätere Auswilderung. Keine Prägung, kein Vertrauen in den Menschen – so schwer es uns auch fällt, es ist im besten Sinne des Wildtiers.
Wir haben alles gegeben, um diesem Kitz eine Überlebenschance zu ermöglichen. Die Versorgung war intensiv, herausfordernd und emotional – rund um die Uhr. Doch genau das ist es, was wir tun: kämpfen für jedes Leben, das in unsere Verantwortung fällt.
Heute, einige Wochen später, können wir sagen: Hubertine – wie wir das Kitz inzwischen nennen – hat es geschafft. Sie ist stabil, frisst zuverlässig, wächst sichtbar und zeigt all die typischen, feinen Rehbewegungen: vorsichtig, wachsam, lebendig. Die kritischen Tage, in denen jede Stunde zählte, hat sie mit unserer Hilfe überstanden.
Wenn die Zeit gekommen ist, wird Hubertine in die Freiheit entlassen. Dorthin, wo sie hingehört – auch wenn dort wieder Gefahren auf sie warten. Für uns wird dieser Moment schwer sein, denn wir haben sie über viele Wochen begleitet. Aber wahre Fürsorge bedeutet auch, loszulassen – für ein Leben, das nicht von Zäunen begrenzt ist.
Die Freiheit wartet - aber erst muss Hubertine noch erwachsen werden.